Martin Linzer

»Jazz in der Kammer« 1965 - 1990

Am Samstag hatte ich noch Schuhe gekauft, Krokodilleder, und ein Päckchen Pfeifentabak, bei Boenicke am Kurfürstendamm, wie immer. Am Sonntag war plötzlich die Grenze zu: 1. August 1961. Nach dem ersten Schrecken, nicht nur wegen des Tabaks, auch ein Gefühl der Erleichterung, heute schwer vorstellbar.

Der fortschreitende Aderlass war erst einmal gestoppt, noch mochten wir die DDR nicht aufgeben, und ein Gutteil der heimischen Intelligenz sah in der erzwungenen Abschottung auch die Chance, nun Konflikte und Widersprüche der eigenen Entwicklung aufrichtig und besonnen, ohne »Feindeinfluss« mit Partei und Regierung diskutieren zu können - und lange, meinten wir, würde die Mauer nicht stehen.

Also vorerst keine Mahalia Jackson mehr im Sportpalast, kein Lionel Flampton in der Deutschlandhalle, keine »Badewanne«, kein Bar-Jazz mit Rediske.
Und siehe da, eine andere Hoffnung schien sich, zart wie erstes Frühlingsgrün, langsam zu erfüllen: Jürgen Fromm spielte Jazz im Prater, Klaus Lenz stellte sein Quintett 61 vor (ohne Piano klang das schon recht schräg), im Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft (heute: Palais am Festungsgraben) gab's - leider zu kurz - eine Reihe »Jamboree«, ein Mischprogramm mit viel Jazz (Gerry Wolff von der Volksbühne sang Gospel und Blues) und die im Deutschen Theater in der Schumannstraße, in Benno Bessons Inszenierung von Aristophanes/Hacks' »Frieden« fröhlich jammenden Jazz-Optimisten machten Appetit auf mehr.

So war es vielleicht kein Zufall, dass ausgerechnet im Deutschen Theater eine Gruppe junger Leute (darunter Dieter Mann, damals frischer Absolvent der Ernst-Busch-Schule, später Intendant, heute Ehrenmitglied) die hausinterne Diskussion um ein »zweites Programm«, also zuschauerlockende Angebote außerhalb des Repertoires, zum Anlass nahm, die Etablierung einer Jazz-Reihe vorzuschlagen.

Spielort sollten die zum Haus gehörenden Kammerspiele sein, also: »Jazz in der Kammer«.
Dem Intendanten Wolfgang Heinz gefiel der Vorschlag, dem Verwaltungsdirektor Walter Kohls gefiel daran, dass er ab und an einen Schließtag vermied (der sonst meist spielfreie Montag) und trotzdem der Bühnentechnik einen freien Tag gönnen konnte, und als geschäftstüchtiger Geschäftsführer knüpfte er an sein Einverständnis die Bedingung, dass die Konzerte nicht mehr kosten, als sie - im Schnitt - einspielen, bei Eintrittspreisen deutlich unter den üblichen.

Uns schreckte selbst das nicht, und wir hielten uns dran, bis zuletzt. Rasch war klar und Konsens zwischen Veranstaltern und Musikern, auch den ausländischen Gästen: Für uns spielten sie »für 'nen Appel und 'n Ei«, so wohl fühlten sie sich in der »Kammer« und so wichtig war es ihnen, gerade hier präsent zu sein.

Dieter Mann »lockte« einen Freund in unsere Arbeitsgruppe, dem wir die fachliche Verantwortung übertrugen, den jungen Berliner Gartenarchitekten Ehrhart Schmidt, Bruder von Siegfried Schmidt- Joos, Publizist und Jazz-Produzent beim Rundfunk in Köln. Schmidt sorgte für das Programm bis zum Jubiläumskonzert Nr. 25, dann forderte der Brotberuf wieder sein
volles Recht, und Linzer und sein Freund Joachim Maaß (auch Journalist, auch zeitweilig am Deutschen Theater tätig) übernahmen die künstlerische (und programmatische) Verantwortung - bis zum guten Ende.

II
Der Schriftsteller Stefan Heym hatte schon in den fünfziger Jahren daraufhingewiesen, dass Bluejeans eigentlich die Berufskleidung der US-amerikanischen Arbeiterklasse wären, und selbst parteitreue Musikologen hatten eingeräumt, dass Jazz, jedenfalls in seinen Frühformen, als Musik der unterdrückten schwarzen Bevölkerung gelten könne. »Snobistischer Jazz« freilich, wie Andre Asriel noch 1966 in der ersten Auflage seines populären Jazz- Buchs die Musik etwa eines Charlie Parker verteufelte (später rückte er davon ab), war weniger erwünscht, aber uns ging es ja auch gar nicht um den Import »amerikanischer Unkultur«, uns ging es um etwas ganz anderes ...

Martin Linzer und Joachim Maaß
Martin Linzer und Joachim Maaß
 

Es gab eine Art »Regierungserklärung«, die zierte eine Seite des bis zuletzt gleich- formatigen schmalen Programm-Faltblatts, jedenfalls bis zum sechsten Konzert, und die lautete so:
• »Jazz in der Kammer« soll als Teil eines »Zweiten Programms« des Deutschen Theaters - neben den Veranstaltungen des Lese-Theaters und den traditionellen Matineen - auch speziellere Wünsche vor allem seiner jugendlichen Besucher erfüllen und gleichzeitig neue Besucherschichten für die Arbeit des Deutschen Theaters interessieren.

• »Jazz in der Kammer« soll - das Interesse der Berliner Jazz-Freunde vorausgesetzt - zu einer festen Veranstaltungsreihe werden und damit dem Jazz als Kunstform ein ständiges Podium in Berlin schaffen.

Die Konzerte sollen in Abständen von etwa sechs Wochen stattfinden.
• »Jazz in der Kammer« soll der Förderung und Popularisierung des Modern Jazz in unserer Republik dienen und jede Art von kommerzieller Tanzmusik, jeden Pseudojazz und unqualifizierte Amateurmusik ausschließen.

»Jazz in der Kammer« soll den besten Solisten und Gruppen aus der Republik die Möglichkeit geben, vor dem Berliner Jazz-Publikum ihr Können zu zeigen, um einen möglichst repräsentativen Querschnitt dieser Kunstform und ihrer ernsthaftesten und künstlerisch reifsten Interpreten zu bieten. Dazu sollen hervorragende Vertreter des Modern Jazz aus dem Ausland zur Mitwirkung gewonnen werden.

III
Der Auftakt (am 1. November 1965) war programmatisch und ein Paukenschlag zugleich: Aus Leipzig kam Joachim Kühn mit seinem Trio (Joachim Kühn - p, Klaus Koch - b, Reinhard Schwartz - dr), und das war das Schrägste, was derzeit an modernem Jazz in der DDR zu haben war.
Sie spielten Themen aus der »Dreigroschenoper«, aber überwiegend schon eigene Titel, und es war weniger der ungewohnte Sound als vielmehr die Haltung der Musiker zu ihrer Musik, die überraschte, teils schockierte, vor allem aber begeisterte: die Freiheit der Interpretation, die dennoch das Werk eines verschworenen »Kollektivs« war.

Einer der wenigen wohlwollenden, jazzverständigen Musikkritiker schrieb über das Trio: »Es war eine ausgesprochen intellektuelle Musik, die sie darboten, frei in der Rhythmik, arabesk verschlungen mit kammermusikalischer Feinheit des Klanges, aber eben auch - und das lässt sie im besten Sinne Jazz bleiben - mit der notwendigen Phantasiekraft für die Improvisation.

Im Programmblatt für das dritte Konzert, des großen Erfolges wegen nochmals das sensationelle Trio, verstärkt durch Bruder Rolf Kühn (Hamburg), konstatierte Ehrhart Schmidt weiter: »Das Trio ... ist die einzige Formation in der DDR, die die jüngste Stilentwicklung des Jazz repräsentiert.«
Für »Jazz in der Kammer« war damit der Weg vorgezeichnet.

Bekanntlich verließ Joachim Kühn wenig später die Republik via Wien, wir setzten indessen konsequent den einge- schlagenen Weg fort, stellten nach und nach die wichtigsten Vertreter des zeitgenössischen Jazz vor: Friedhelm Schönfeld und Ernst-Ludwig Petrowsky, Klaus Lenz und Günther Fischer, das Studio IV, eine Initiative des Rundfunks (Joachim Graswurm, Hubert Katzenbeier, Petrowsky, Eberhard Weise, Klaus Koch, Wolfgang Winkler) und Günter Sommer, und als im 25. Konzert erstmals Manfred Schulze dabei war, war das »Who's Who« der Szene beisammen.

Zum Konzept von Studio IV angesprochen, sagte Petrowsky (1968) auch Wesentliches über die Jazz-Avantgarde dieser Zeit: »Musikalisch wollen wir uns nicht in Kategorien festlegen, sondern versuchen, uns selbst zu spielen.
Dabei sehe ich unsere Musik als künstlerische Reflexion der zeitgenössischen Kunst an - besonders natürlich als Reflexion der Musik unserer Zeit, wobei ich auch die populäre Musik, alle Formen des Jazz und auch die außereuropäischen Musikkulturen einbezogen wissen möchte.

IV
Die Reihe profitierte in ihrer Anfangsphase ganz sicher vom Heinz-Bonus. Wolfgang Heinz, österreichischer Kommunist und exzellenter Schauspieler und Regisseur, war als Intendant des Deutschen Theaters Nachfolger des aus politischen Gründen geschassten Wolfgang Langhoff, genoss das volle Vertrauen des Regimes - hinter seinem breiten Rücken war vieles möglich.
Und Jazz war als »wortlose«, also offenbar ideologiefreie Kunst weitgehend unverdächtig, die mächtigen Kulturwächter ohnehin ohne Sachverstand.

Mit gewissem Staunen - aber auch Erleichterung - konnte ich selber zur Kenntnis nehmen, wie sich im Ministerium für Kultur die Fachabteilungen die Verantwortung gegenseitig zuschoben und keiner sie - glücklicherweise - ernsthaft wahrnahm: Für die Theaterabteilung handelte es sich bei »Jazz in der Kammer« um Musik, für die Musikabteilung um eine Veranstaltung in einem Theater.

Tatsächlich erinnere ich mich an nur einen Fall behördlichen Einschreitens Ende der Sechziger. Einem in Westberlin lebenden Amerikaner wurde da das Einreisevisum für ein Konzert mit Musikern aus Ostberlin und Prag verweigert, und der von mir angesprochene stellvertretende Minister für Kultur Kurt Bork, sonst ein umgänglicher Kumpel, mochte auch nicht helfen.

Dabei ging es letzten Endes weder um die Person des Musikers noch um »Jazz in der Kammer« - in irgendeiner Ecke des kulturellen Lebens brannte es mal wieder und keiner wollte sich zusätzlichen Ärger ins Haus holen.
So etwas gehörte zum kulturpolitischen Alltag im real existierenden Sozialismus.

Für Gastspiele aus dem Ausland war grundsätzlich die Künstler-Agentur zuständig. Eigentlich durften wir mit den Künstlern bzw. deren Managern/Agenturen überhaupt nicht direkt verhandeln, aber dann hätten Gastspiele gar nicht stattgefunden - also wurde das Verhandlungsverbot ständig und vorsätzlich unterlaufen: Wir spielten der Künstler-Agentur alle nötigen Daten in die Hände, Gage, Reisekosten, Unterbringung betreffend - natürlich mit Stempel und Unterschrift des Theaters -, und die Agentur musste nur noch die Verträge ausfüllen und die Visa beantragen.
Das ging bis zur Wende gut...

Mehrere Umstände kamen uns dabei zugute. Zum einen wurde Musik, also »wortlose« Kunst, weniger beargwöhnt; zum anderen spielte Geld kaum eine Rolle: Die Gagen waren lächerlich gering und wurden ausschließlich in Mark der DDR bezahlt (da ging es um andere Beträge, wenn West- Künstler für den »Kessel Buntes« eingekauft werden sollten); schließlich waren die höheren Chargen in der Agentur zwar auch weitgehend inkompetent und politisch engstirnig, aber an der Basis, da wo die Zusammenarbeit konkret wurde, saßen zumeist sachkundige, vernünftige, engagierte Kollegen, die uns eher halfen, als uns Steine in den Weg zu legen.

Im Zweifelsfall holten wir die Musiker selber vom Checkpoint Charlie ab, organisierten Instrumente und Technik, halfen ihnen, die Gage in der Kantine zu versaufen, gingen mit ihnen auch mal shoppen am nächsten Tag: Schuhe waren beliebt, auch Fotoapparate. Vor allem aber Schallplatten (Eisler u.a.).

Widerstand gegen »Jazz in der Kammer« kam nicht von den Behörden, kaum von den Medien, Widerstand gegen unser »einseitiges« Konzept - mit der Option für modernen Jazz - kam vor allem aus der Szene selber, nicht immer fair, kam von den Dixieländern— und Mainstreamern, die bei uns keine Chance hatten, kam von den selbsternannten Jazz-Päpsten, die mit den vollen Plattenschränken, die die Aufnahmedaten ihrer Alt-Stars im Kopf hatten, aber keine Ohren am Kopf für das Neue im Jazz, um das es uns ging.

Die professionelle Musikkritik half uns nicht, störte uns aber auch nicht; was an Konzert-Besprechungen erschien, meist in Zeitungen der kleinen Parteien, blieb auf Leserbrief-Niveau. Und in der Musikwissenschaft war wohl das Jazz-Verdikt von Theodor Wiesengrund Adorno noch immer aktuell, Friedrich Goldmann, Komponist und Musikwissenschaftler und Mitglied der Akademie der Künste der DDR, vergaß selten, es mir mit freundlichem Hohn unter die Nase zu reiben ...

V
Waren die ersten fünf Jahre vor allem eine Zeit des Suchens, des Sammelns, einer Rekrutierung der Kräfte, wo Gastspiele eher durch zufällige Angebote zustande kamen, wo zu Jahresend-Konzerten auch Vertreter des traditionellen Jazz (Profis aus Warschau oder Prag) eingeladen wurden, um neue Freunde zu gewinnen, Zuhörer, die noch Berührungsängste mit dem neuen Jazz hatten, so wurde etwa ab 1970 die Auswahl strenger, die Bemühungen ernsthafter, wurde »Jazz in der Kammer« immer mehr zu einer Art Laboratorium für eine Musik, die die einen Free Jazz, andere improvisierte Musik nannten.

Manfred Hering und Helmut »Joe« Sachse bei»Jazz in der Kammer« Nr.100
Manfred Hering und Helmut »Joe« Sachse bei »Jazz in der Kammer« Nr.100
 

Dafür wurden wichtig: der kontinuierliche Besuch eines Festivals in Warschau, der enge Kontakt zu einer Musiker-Kooperative in Westberlin, die Ausweitung und Verstärkung der Kontakte innerhalb der eigenen Szene.

Die alljährlich im Oktober in Warschau stattfindende Jazz Jamboree war ein anspruchsvolles, vom polnischen Staat gefördertes, vor allem von der amerikanischen Botschaft gesponsertes Unternehmen im Großen Saal des Warschauer Kulturpalasts (der ein Geschenk von Stalin war).

Hier versammelten sich an mehreren Tagen die gesamte polnische Szene, Stars aus den USA (bis hinauf zu Miles Davis) und auch interessante Newcomer aus west- wie osteuropäischen Ländern.
Backstage (mit entsprechendem Ausweis als »Jazz in der Kammer« -Vertreter und zeitweiliger Korrespondent des »Jazz Forum«) und in den zahlreichen Festival-Clubs - wo bis in den grauenden Morgen gejazzt, getrunken, auch gekifft wurde - gab es die Möglichkeit zu Kontakten mit Musikern, Managern, Journalisten-Kollegen.

Hier trafen wir Tomasz Stanko, den begnadeten Trompeter, der aus der breiten, aber überwiegend dem Mainstream verpflichteten Szene herausragte, und luden ihn mit seinem Quintett ein; hier trafen wir The Trio (John Surman - ts, Barre Phillips - b, Stu Martin - dr), das später bei einer Tournee zwischen Warschau und London in Berlin Station machte (keine Reisekosten!) und uns im März 1971 ein einmalig schönes, aufregendes Konzert bescherte, mit einer Jazz-Power, wie sie die »Kammer« bis dato nicht erlebt hatte; hier trafen wir den freundlichen Finnen Heikki Sarmanto und andere mehr.

War in Warschau schon das Theater in den Siebzigern außergewöhnlich, so war die Stadt während der Jazz Jamboree ein quasi exterritorialer Ort fast rauschhaften Genusses oder ein Land Utopia innerhalb des sozialistischen Lagers. (Natürlich traf man hier auch das Stammpublikum von »Jazz in der Kammer«.)

Im Oktober 1973 überraschte uns die Schweizer Pianistin Irène Schweizer mit ihrem eigenwilligen Spiel, das Gastspiel ihres Quartetts - Irène Schweizer (p), Rüdiger Carl (ts), Arjen Gorter (b), Heinrich Hock (dr) - war das erste, das durch Vermittlung der FMP (Free Music Production) zustande kam (bei den FMP-Gastspielen war unser Montag meist der Appendix eines Wochenend Gastspiels in Westberlin - wieder keine Reisekosten!).

Dass wir Jost Gebers kennen lernen mussten, zwangsläufig, war nur eine Frage der Zeit. Er war zuvor schon öfter mit Musikerkollegen zu »illegalen« Sessions mit DDR-Musikern in die »Große Melodie« vorgedrungen, wo Klaus Lenz eine Zeit lang regelmäßig Konzerte veranstaltete.

Dem ebenso sachlichen wie freundschaftlichen Kontakt zu Gebers verdankt »Jazz in der Kammer« eine Reihe seiner schönsten Konzerte, weil hier Musiker auftraten, improvisierende Musiker, Musiker mit ähnlicher Haltung und »Philosophie«, die durch ihr Beispiel, aber auch durch das Zusammenspiel mit unseren Musikern zur Entwicklung dessen einen wichtigen Beitrag Leisteten, was Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger zum spezifischen DDR-Jazz (besser vielleicht: Jazz in der DDR) wurde, mit einem Niveau an innovativer Ausdruckskraft und musikalischer Professionalität, dass DDR-Musiker auch international immer stärker gefragt wurden.

Gebers und der FMP verdanken wir wiederholte Begegnungen mit Musikern wie Peter Brötzmann und Willem Breuker, Misha Mengelberg und Alexander von Schlippenbach, ein Saxophon Special brachte im März 1978 Brötzmann, Breuker, Steve Lacy, Evan Parker und John Tchicai mit Klaus Koch und Günter »Baby« Sommer zusammen, im Juni 1988 kam Cedi Taylor.

VI
Die »Hochzeit« der Reihe waren ganz sicher die siebziger Jahre, auch dank der Warschauer Kontakte und der sich gut und unkompliziert entwickelnden Kooperation mit der FMP, vor allem aber durch die planmäßig betriebene Profilierung von »Jazz in der Kammer« als Laboratorium des zeitgenössischen Jazz.
Ein Mittel waren die Werkstätten bzw. Workshops mit der »Elite« der improvisierenden Musiker.

Eine zentrale Rolle spielte in diesem Prozess der Pianist Ulrich Gumpert. Er hatte bei »Jazz in der Kammer« seinen Einstieg 1970 als Mitglied des Modem Blues Sextetts, leitete die Gruppe SOK (liebevoll auch Blut- Schweiß-und-Tränen-Kapelle genannt, Live- Band des Deutschen Theaters für die Inszenierung von Plenzdorfs »Die neuen Leiden des jungen W.« mit Dieter Mann), bildete mit der Rhythmusgruppe auch ein eigenes Quartett.

Willern Breuker bei »Jazz in der Kammer« Aladar Pege bei »Jazz in der Kammer«
Wilhelm Breuker & Aladar Pege bei »Jazz in der Kammer«
 

Die Werkstatt 1 im April 1971 mit Gumpert, Schönfeld, Petrowsky, Heinz Becker, Konrad Bauer, Koch, Sommer und Winkler war die Ur-Form aller späteren von Gumpert initiierten Workshop-Bands; aus der Gruppe Synopsis (Gumpert, Petrowsky, Bauer, Sommer) wurde später das Zentralquartett, eine ironische Anspielung auf ein zentrales Parteiorgan, sich selbstironisch als Führungsebene des DDR-Jazz etablierend (ein aus gutem Grund nur im Westen verteiltes Plakat zeigte die vier »zentralen« Musiker en profil, nachempfunden der populären Darstellung der vier großen marxistischen Ikonen Marx/Engels/Lenin/Stalin).

Das erste auch so genannte Jazz Werkstatt Orchester stellte Gumpert im September 1972 vor; die dort aus der Taufe gehobene Suite »Aus teutschen Landen«, basierend auf authentischem deutschem Volksliedgut, wurde aus Anlass des 100. Konzerts auf einer Amiga-LP veröffentlicht; es folgten bis zum Ende der achtziger Jahre noch mehrere Neuauflagen mit einem festen Stamm von Mitwirkenden - immer war es ein Ausflug in neue Dimensionen.

Einem anderen Musiker, der ganz eigene Wege ging, einen spezifischen Sound in das Jazzleben der Republik einbrachte, schenkte die Reihe besondere Aufmerksamkeit durch regelmäßige Einladung: dem »Catcher« Manfred Schulze.

Seine Bläser-Quintette, mit und ohne Rhythmusgruppe, später das Berliner Improvisationstrio (mit Hermann Keller und dem Cellisten Wilfried Staufenbiel), haben die Zuhörer begeistert und schockiert, das Publikum jedenfalls gespalten - auch als es Längst einen Konsens über Free Jazz gab.

In seiner Musik waren die Strenge der Form (meist auf klassische Strukturen zurückgehend, etwa Bach'scheChoräle) und freies Spiel bis ins Extrem getrieben. »Der >Zwang< zur Improvisation verlangt von den Musikern ein hohes Maß an Disziplin und Rücksichtnahme als eine Voraussetzung echten Mitschöpfertums.« (Programmblatt-Text).

Mit Hermann Keller, nicht nur exzellenter Pianist, auch als Komponist ein konsequenter Pionier der Neuen Musik, hat Schulze ebenfalls Werkstattformationen gebildet, zum Teil mit Texten von Lasker-Schüler, Brecht, Heiner Müller u.a. arbeitend. »Jazz in der Kammer« war diese »Programmschiene« im Sinne des Laboratorium-Konzepts sehr wichtig, auch wenn sie nicht so populär wurde wie andere.

In die glorreichen siebziger Jahre fällt das Jubiläums-Konzert Nr. 100 im November 1977, von langer Hand vorbereitet, ein Parforceritt, aber ein stürmisch bejubelter Erfolg.

Ein Familienfest mit der ganzen Szene, nicht nur dem »harten Kern«, und einer Reihe illustrer Gäste: Albert Mangelsdorff und Willem Breuker, Kent Carter und Aladär Pege.

Günter »Baby« Sommer kreierte seine »Hörmusik«. Petrowsky widmete uns seine Komposition »100 Maaßgelinzerte« und Willem Breuker schenkte uns nach Begleichung der Zeche sein verbliebenes Ost-Geld - der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Kurz davor hatte das japanische Yosuke Yamashita Trio die Kammer heißlaufen lassen, wenig später kam das komplette Willem Breuker Kollektief, im März 1979 schließlich - für viele Besucher der absolute Höhepunkt in der Geschichte von »Jazz in der Kammer« -, das Art Ensemble of Chicago.

Die erfolgsverwöhnten, etwas kapriziösen Musiker, die bekannt waren für ihre sehr speziellen Wünsche (nicht nur ein spezielles Mineralwasser sollte zur Verfügung stehen), kamen ganz bescheiden, aber voll konzentriert und vor allem neugierig auf das ihnen unbekannte Publikum im »Osten« - und spielten wie die Teufel.

Eine sich wiederholende Erfahrung war, dass bei ausländischen Gästen, die das erste Mal im »wilden Osten« gastierten, die anfängliche Skepsis, mit Neugier gemixt, sehr rasch beseitigt war, weil sie natürlich sofort an den Reaktionen der Zuhörer spürten, dass sie es mit einem interessierten, sachverständigen und begeisterungsfähigen Publikum zu tun hatten, für das diese Konzerte etwas Besonderes waren, nicht Alltag, sondern Feiertag.

Oberschließerin Gerda Gesche beim Einlass
Oberschließerin Gerda Gesche beim Einlass
 

VII
Die Frage, wie politisch der DDR-Jazz war, oder wie widerständlerisch, möchte ich an einem Beispiel zu beantworten versuchen. Bei einem Konzert mit dem Günther Fischer Quintett Anfang der Siebziger, wofür der Soldat Reinhard Lakomy Urlaub bekommen hatte, sagte dieser einen eigenen Titel an, der nicht auf dem Programmzettel stand: »Chausseestraße 131«!

Die Mehrzahl der Besucher wusste natürlich, dass dies die Adresse des noch in der DDR lebenden Wolf Biermann war.
Die Ansage war eine politische Provokation, die das Publikum - das damals zu einem Gutteil nicht nur wegen der Musik kam, sondern hier eine schützende Nische vor dem Alltagsfrust des real existierenden Sozialismus suchte - mit wohligem Gruseln quittierte.
Die Komposition als solche hätte indessen ohne Weiteres auch »Stalinallee 08/15« heißen können oder »Sunset Boulevard 007«. So viel zu diesem Thema.

VIII
Mit dem Konzert des Art Ensemble of Chicago (das wegen der Nachfrage im größeren Deutschen Theater stattfand) ging eine Ära spektakulär zu Ende, mit einem Paukenschlag - so wie die Reihe mit einem Paukenschlag eingeleitet worden war.
Deutsches Theater und Kammerspiele wurden 1979 wegen Rekonstruktion geschlossen, die Reihe ausgesetzt, erst 1982 gelang es, eine der Ersatzspielstätten des Theaters für uns zu aktivieren: das Filmtheater am Friedrichshain.

Eine Location ohne Flair, ohne die Patina eines Staatstheaters, aber auch ohne den Charme eines Clubs. Wir haben dort tapfer neun Konzerte absolviert, meist mit Werkstattcharakter.
Wir hatten einige interessante Gäste, aber das an die »Kammer« gewöhnte Publikum blieb weitgehend aus; ein Teil hatte ohnehin eine juvenile Jazz-Phase abgeschlossen, Studenten hatten jobbedingt die Stadt verlassen.

Und das Schlafsack-Publikum, das in den Siebzigern noch in die »Kammer« trampte, hatte inzwischen auch in der heimischen Region eine lokale Szene gefunden, es kam nur noch zu den absoluten Highlights (oder trampte nach Peitz).
- So richtig bewusst wurde uns das veränderte Publikumsverhalten - auch als verändertes Verhalten zum Gegenstand (Jazz verlor von seinem Kult-Charakter) - erst nach der Rückkehr in die rekonstruierten Kammerspiele im Dezember 1983: mit einem Jubilee für Ernst-Ludwig »Luten« Petrowsky, der als einer der dienstältesten DDR-Jazzer seinen 50. Geburtstag feierte.

Jazz, auch in seinen avantgardistischsten Ausprägungen, war inzwischen etabliert, hatte seinen Platz im kulturellen Leben gefunden, wurde politisch nicht mehr angefochten - und war mit der Gründung einer Sektion Jazz beim Komitee für Unterhaltungskunst auch gesellschaftlich »eingebunden«.

Sichtbares Zeichen der Anerkennung: die Jazzbühne des staatlichen Rundfunks im neuen Friedrichstadtpalast. Jazz zu hören gab es in »Erichs Lampenladen«, aber auch bei den Vernissagen in Jürgen Schweinebradens illegaler Galerie in Prenzlauer Berg, wo sich Maler, Musiker, Journalisten, Mitarbeiter der Ständigen Vertretung trafen, auch wenn alle wussten, dass die Stasi in irgendeiner Form dabei war.

»Jazz in der Kammer« versuchte in den Achtzigern, ohne die »Alten« zu vergessen, nachrückende Talente zu fördern (Diesner, Johannes Bauer, Schlott u.a.) und attraktive Gäste aus dem ganzen stilistischen Spektrum zu gewinnen (von Chico Freeman und Paul Motian bis Dino Saluzzi), was durch Ausweitung der privaten Kontakte, auch neue Kontaktpersonen, möglich wurde.

Ein Hauptanliegen in den Achtzigern aber wurde das Bemühen, Jazz/improvisierte Musik im grenzüberschreitenden Verkehr mit anderen Künsten zu zeigen.

Ulrich Gumpert schuf »Kurzopern« mit Texten von Jochen Berg, das Jazz Werkstatt Orchester wurde »verstärkt« durch junge Schauspieler des Deutschen Theaters (Dagmar Manzel, Johanna Schall, Katrin Klein, Frank Lienert), der Posaunist Günter Christmann kommunizierte in seinem Dejä-vu- Projekt musikalisch mit einem Film; Konrad Bauer »begleitete« die Tänzerin/Choreographin Ariela Siegert, Ulrich Gumpert den Pantomimen Tadashi Endo (ausschließlich mit Musik von Erik Satie); in Installationen des Schweizer Bildhauers Schang Hutter bewegte sich FINE, begleitet von jungen Musikern um Dietmar Diesner.

Auch auf musikalischem Gebiet erfolgten Grenzüberschreitungen in Richtung E wie U: Paul-Heinz Dittrich hatte schon früher ein Werk beigesteuert, Georg Katzer experimentierte mit elektronischen Klängen und Friedrich Schenker war ein nahezu hem mungslos-spielwütiger Improvisator auf der Posaune; auf der anderen Seite bewies Popmusik ihre Affinität zum Jazz bei dem Dresdener The New Fantastic Art Orchestra of North oder der Gruppe Ornament & Verbrechen.

IX
Mitte der achtziger Jahre vereinbarten wir mit der Leitung des Deutschen Theaters, den Rhythmus der Veranstaltungen zu verändern: Es sollten nur noch höchstens vier Konzerte im Jahr stattfinden, gern mit mehreren Veranstaltungen, auch auf zwei Tage verteilt - Mini-Festivals.

Das Programm sollte stilistisch und genremäßig aufgefächert sein, verschiedene Zielgruppen ansprechen. Das funktionierte ab dem JubiLäums-Konzert Nr. 150 recht gut.
Später vereinbarten wir, die Reihe im Herbst 1990 auslaufen zu lassen, unser Ziel war nicht eine bestimmte Anzahl von Konzerten, sondern: 25 Jahre »Jazz in der Kammer«. Wir wollten selber bestimmen, wann Schluss ist.


Als wir im November 1989 das vom Komitee für Unterhaltungskunst in Weimar veranstaltete Jazzfest der DDR besuchten, die Mauer war gerade gefallen und die Thüringer Jugend mit Bahn und Trabbi unterwegs dahin, wo es »Video, Golf und Marlboro« (Maren Kroymann) gab, stellten wir frustriert, aber auch erleichtert fest, dass wir richtig geplant und gehandelt hatten. Und bereiteten langfristig das letzte Konzert, Nr. 163, vor.


Noch einmal sollte sich die »Familie« des DDR-Jazz treffen, am heimatlichen Herd sozusagen.
Und alle kamen schließlich, soweit sie nicht auf Tour waren (wie Gumpert und Sommer, leider), es kamen Rückkehrer, die die DDR vor ihrem Ende verlassen hatten (Schönfeld, Lothar Fiedler), einige Musiker hatten neue Freunde mitgebracht, »Luten« Petrowsky einen Ehrengast: George Gruntz, in dessen Big Band er einen festen Platz hatte.

Vielleicht ist es angezeigt, den Tag, an dem auf der Bühne der Kammerspiele der Leiter des (West-) Berliner JazzFestes und der Über- Vater des DDR-Jazz miteinander spielten, den eigentlichen »Tag der Einheit« zu nennen. Es war der 10. November 1990.

Dieter Mann, der an der Wiege der Reihe gestanden hatte, musste nun als Intendant auch den Abschiedsgruß sprechen, er tat dies mit Würde und Verständnis, dankte der Arbeitsgruppe des DT und »allen Förderern, Jazzern und Besuchern für ihre Arbeit und ihre Hingabe«, für ihre »Leidenschaft«, um »eine einmalige 25-jährige >Jazz in der Kammer<-Reihe im Deutschen Theater mit einem Wort zu charakterisieren«.

Eingeschlossen in den Dank waren auch die Schauspieler des DT, die uns als Ansager zu Freunden wurden (Alexander Lang, Peter Bause, Günter Sonnenberg vor allem), die auch nach außen »Jazz in der Kammer« als eine Veranstaltung des Deutschen Theaters auswiesen.

X
Die Organisatoren versuchten im Programmtext des letzten, 163. Konzerts ein vorläufiges Resümee: »Junge Schauspieler des DT haben 1965 den Anstoß zur Gründung der Reihe gegeben, womit ... einerseits der Kreis der traditionellen DT-Besucher erweitert, andererseits dem in der Hauptstadt noch >heimatlosen< Jazz in der Frühphase seiner eigenständigen nationalen Entwicklung ein ständiges Podium geschaffen werden sollte.

Offen für alle schöpferischen Jazzmusiker des Landes, die neue Wege beschritten. Aus einem Hobby- Unternehmen begeisterter Jazzfreunde wurde sehr bald eine feste Institution im kulturellen Leben Berlins (und der Republik), die zunehmend auch an internationaler Bedeutung gewann.

Eine Partitur von Ulrich Gumpert
Eine Partitur von Ulrich Gumpert
 

Charakteristisch war die Hinwendung vom reinen Konzertpodium zur Werkstatt, was den entwickelten Bedürfnissen des Publikums wie den Interessen der Musiker entsprach.

Vor allem in den siebziger Jahren, dem entscheidenden Stadium der Herausbildung eines auch international anerkannten, DDR-spezifischen Jazz auf der Grundlage nationaler und gesamteuropäischer Kulturtraditionen, wurde >Jazz in der Kammer< zum Kristallisationspunkt, zum Brennspiegel und orientierenden Faktor in der nationalen Szene.

Echte Entwicklungsarbeit zu leisten, die Reihe zu einem lebendigen, schöpferischen Laboratorium zu machen, war möglich durch das Engagement der Musiker... Dabei hat >Jazz in der Kammer< auch immer den Dialog gesucht mit ausländischen Musikern, die im gleichen Kontext arbeiteten, in ihren Ländern den Emanzipationsprozess des europäischen Jazz vorantrieben und in den DDR-Musikern Verbündete sahen; Gastspiele international renommierter Gruppen wurden zum Höhepunkt in der Geschichte der Reihe und Teil der Förderarbeit für den DDR-Jazz.

So entwickelte sich >Jazz in der Kammer< zu einem internationalen Treffpunkt, zu einem Ort der Begegnung und des kulturellen Austauschs. ...

Alle Jazzer in der (ehemaligen) DDR, die heute als Spitzeninterpreten in der Welt gefragt sind, sind durch die >Schule< der Reihe gegangen, haben ihre Geschichte mitgeschrieben und hier wesentliche Impulse für ihr Schaffen empfangen ..., eine ganze Generation jüngerer Jazzer hat hier ihre ersten Schritte in die nationale (und auch schon internationale) Szene getan.

Nach 163 Veranstaltungen (die effektive Anzahl der Konzerte liegt natürlich höher) weist die Statistik aus, dass über 600 Musiker aus 30 Ländern in >Jazz in der Kammer< angetreten sind.

Nach 25 Jahren, in denen sich die Jazz- Szene des Landes entscheidend verändert hat, sehen die ebenfalls älter gewordenen Initiatoren der Reihe ihre Aufgabe als erfüllt an und verabschieden sich mit der heutigen Familien-Party, die noch einmal treue, langjährige Mitstreiter der >Kammer< vereint, von ihrem treuen Publikum.

PS: Zu danken ist auch dem Rundfunk der DDR, der ab der Nr. 7 wiederholt ganze Konzerte oder wesentliche Teile mitgeschnitten, auch gesendet hat, und nicht nur die Highlights. Da liegt noch ein Schatz vergraben ...

 

 Freie Tönemit freundlicher Genehmigung des Ch.Links Verlag, Berlin:
   FREIE TÖNE Die Jazzszene in der DDR
von Rainer Bratfisch erschienen 2005.